Gedichte, Krimis, Satiren und Geschichten

von Gunnar Schuberth

In der Nähe von Siena

Doch einmal, morgens um sechs, stand ich auf und schloss alle Fenster, und verklebte die Ritzen an der Tür und am Fensterrahmen und steckte mir Wachs in die Ohren.
Und der Schweiß lief mir über das Gesicht, über die Brust und den Rücken, und ich zitterte, aber ich musste etwas tun, um die Stimmen nicht mehr zu hören.

Der Schlaf des Schmetterlings

 

 

Angela Merkels geheimes Tagebuch

Die ObergrenzeAngela Merkel

01.10.2017

Liebes Tagebuch, was für eine Woche liegt hinter mir. Ich habe die Wahl gewonnen, aber jetzt tun alle so, als wäre das eine Niederlage und ich müsste für irgendetwas die Verantwortung übernehmen.
Ich sehe nicht, dass da etwas falsch war. Aber weil alle diese vorwurfsvollen Gesichter hatten, habe ich eben die Verantwortung übernommen.
„In Gottes Namen, dann übernehme ich halt die Verantwortung“, habe ich gesagt. Aber das hat den Journalisten auch nicht gepasst. Ich frage mich, ob das noch mein Land ist, wenn so ein Sieg nur schlechtgeredet wird.

Gleich nach dem Wahlabend hat Horst angerufen.
Es ging natürlich um die Obergrenze. Immer will Horst über die Obergrenze reden. Gibt es denn kein anderes Thema mehr?
„Wir brauchen eine Obergrenze“, hat Horst gesagt. „Ohne eine Obergrenze kennt der Rutsch nach unten keine Grenze. Dann gibt es auch keine Untergrenze. Es ist eine Grenze erreicht, wir brauchen Grenzen, eine Obergrenze ...“
Ich habe aufgelegt

In der Bundestagskantine hat man diese Woche neben der Wahl nur über Macron gesprochen, diesen französischen Überflieger. Und davon, was für kurze Kleider seine Frau trägt.
Ich kam gestern etwas zu spät zum Essen und es gab eine unangenehme Überraschung.
Die Königsberger Klopse, mein Lieblingsgericht, waren schon weg. „Gibt es nicht mehr“, hat die Bedienung hinter dem Tresen gesagt. Peter Altmaier neben mir konnte es nicht glauben. Keine Königsberger Klopse für die Kanzlerin?
Die Frau hinter dem Tresen hat alles auf ihren Chef geschoben. „Der Chef hat gesagt, wir sollen nicht so viel bestellen und unbedingt die Obergrenze für Bestellungen von Königsberger Klopsen einhalten. Auf keinen Fall mehr bestellen als die Obergrenze.“
Als Peter das Wort Obergrenze gehört hat, ist er wachsbleich geworden. Er hatte Atemnot und röchelte, als hätte er einen Klops im Hals.
Aber dann hat er sich wieder gefangen. Ganz ruhig hat er der Frau dargelegt, dass das Grundgesetz bei Klopsen keine Obergrenze kennt. Das solle sie unbedingt auch ihrem Chef sagen.
Wir haben dann Kartoffelsuppe genommen, aber Peter hat wegen dieser Obergrenze für Klopse ein ganz finsteres Gesicht gemacht.
„Ich muss ganz ehrlich sagen“, hat er gesagt. „Wenn diese Obergrenze dazu führt, dass man kein freundliches Gesicht mehr zeigen kann - denn wie soll man ein freundliches Gesicht zeigen ohne Königsberger Klopse - wenn das so ist, dann ist das nicht mehr meine Kantine.“
Ich schätze Peter sehr, weil er immer sofort das nachplappert, was ich sage oder denke. Aber manchmal übertreibt er auch.

Später am Lift warteten wir gemeinsam. Als sich der Aufzug öffnete, war Sigmar von der SPD mit seinen Leuten drin. Wir wollten noch rein, aber Sigmar hat die Tür versperrt.
„Ihr könnt nicht mehr rein“, hat er gesagt. „Es gibt eine Obergrenze bei dem zulässigen Gewicht für den Lift. Wenn wir euch zwei noch reinlassen, ist die Obergrenze überschritten.“ Bei dem Wort Obergrenze hat er gegrinst.
Der zweite Aufzug war kaputt, und deswegen mussten wir fast fünf Minuten warten. Peter hat angefangen, über Macrons Frau zu reden. Diese kurzen Kleider, die sie immer trägt, unglaublich sexy.

Es ist furchtbar mit dieser Frau und ihren kurzen Kleidern. Gestern habe ich meinen Mann entdeckt, als er mit starren Blick vor dem Computer saß, auf dem Desktop ein Bild von Macrons Frau im kurzen Kleid. Ich habe ihn zur Rede gestellt und er hat gesagt, dass wegen der kurzen Kleider von Macrons Frau jetzt schon der Suchalgorithmus von Google verrückt spielt. Eigentlich habe er einen Artikel zu 'Radikalionen aromatischer Kohlenwasserstoffe' gesucht, aber Google habe ihm immer nur Bilder von Macrons Frau angezeigt.

Und während wir vor dem Lift warteten, hat auch Peter dauernd von Macrons Frau geschwärmt. Und dann hat er mich gefragt, warum ich kein so Kleid mit Ausschnitt mehr trage wie damals bei den Bayreuther Festspielen. „Dieses Kleid damals.“ Peter hat sich ein Taschentuch aus der Tasche geholt und seine Stirn trocken getupft.

Am Donnerstag hat dann auch noch Donald Trump angerufen. Ganze vier Tage hat er sich Zeit gelassen, um mir zu meinem Wahlsieg zu gratulieren.
„Hi Äntschela“, hat er gesagt. „Congratulations, Congratulations on your win.“
Er hat mich nichts sagen lassen, sondern sofort weitergeredet.
„I saw this photo of you. From the Bayreuth Festival. You are in such great shape. You are in such great shape, like Macrons wife. No, you are in better shape than Macrons wife. You have to wear this dress of Bayreuth the next time we meet.“
Endlich kam ich zu Wort. Ich habe ihm gesagt, dass ich seine Glückwünsche nur entgegennehme, wenn Amerika auch weiterhin die Werte wie Demokratie, Freiheit, Recht und Respekt vor Minderheiten achtet.
Und dass er nicht so mit mir reden könne wie mit Macrons Frau. Nicht mit einer Frau, die eine Dissertation geschrieben hat. Ich habe ihm den Titel genannt: Untersuchung des Mechanismus von Zerfallsreaktionen mit einfachem Bindungsbruch und Berechnung ihrer Geschwindigkeitskonstanten auf der Grundlage quantenchemischer und statistischer Methoden.
Einen Moment habe ich nichts gehört. Dann war da wieder seine Stimme: „You are in such great shape, Äntschela, you are in such great shape.“
Ich habe aufgelegt.

Liebes Tagebuch, ich muss jetzt leider Schluss machen, Horst hat mir eine SMS geschickt. Er will gleich anrufen. Ich kann mir schon denken, worum es geht.