Gedichte, Krimis, Satiren und Geschichten

von Gunnar Schuberth

In der Nähe von Siena

Doch einmal, morgens um sechs, stand ich auf und schloss alle Fenster, und verklebte die Ritzen an der Tür und am Fensterrahmen und steckte mir Wachs in die Ohren.
Und der Schweiß lief mir über das Gesicht, über die Brust und den Rücken, und ich zitterte, aber ich musste etwas tun, um die Stimmen nicht mehr zu hören.

Der Schlaf des Schmetterlings

 

 

Angela Merkels geheimes Tagebuch

Wir haben uns alle ganz toll lieb.Angela Merkel

05.11.2017

Liebes Tagebuch, diese Sondierungsgespräche sind schlimmer als ein Kindergarten. Ich musste letzte Woche ernste Maßnahmen beschließen, damit nicht alles vorzeitig scheitert.

Ich habe ein Papier mit Regeln verfasst, die jeder bei den Gesprächen befolgen muss. Die erste und wichtigste Regel:
Du sollst keine Kanzlerin neben mir haben.
Die zweite Regel: Kein Redebeitrag darf länger als eine Minute dauern.

Ich habe mir extra eine Stoppuhr gekauft, um das zu kontrollieren. Wer trotzdem länger redet, muss für zwei Minuten vor die Tür und einen Kurzaufsatz darüber schreiben, wie er konstruktiv zu den Sondierungsgesprächen beitragen kann.
Cem Özdemir hat ganz frech behauptet, eine Begrenzung der Redezeit stünde nicht in Einklang mit dem Grundgesetz. Ich habe ihn sofort vor die Tür nach draußen geschickt mit der Aufgabe, das Grundgesetz auswendig zu lernen.

Aber trotz meiner Regeln wird dauernd wegen Kleinigkeiten gestritten. Der Grüne Robert Habeck hat eine Etikettierung für Schweinefleisch gefordert. Sie soll anzeigen, ob das Schwein während seines Vorlebens auch ein gutes Leben hatte. Sätze auf den Etiketten wie 'Ich war eine glückliche Sau.' oder 'Mein Stall war unter aller Sau.' sollen dem Verbraucher Hinweise geben, inwieweit der Kauf des Fleisches moralisch unbedenklich ist.
Andreas Scheuer war sofort empört und schrie, dass das gegen die Obergrenze des Zumutbaren geht. Und die Schweine in Bayern würden sich sowieso alle sauwohl fühlen und so eine Etikettierung sicher als Sauerei bezeichnen, wenn sie denn sprechen könnten.

Ich habe für beide einen Verweis ausgesprochen. Habeck hat ihn wegen seiner dämlichen Ideen bekommen und Scheuer wegen Verstoß gegen Regel 3 der Jamaika-Sondierungsgespräche: 'Du sollst das Wort Obergrenze nicht ohne Not aussprechen.'

Als die Atmosphäre immer frostiger wurde, war es Peter Altmaier, der versucht hat, für eine gute Stimmung zu sorgen. Er überraschte uns mit einer wunderbaren Idee. Er hatte Glückskekse gebacken, mit einem kleinen Schuss Jamaika Rum, wie er betonte, ohne Industriezucker und nachhaltig gebacken. Und darin – das hatte er aber nur mir verraten – waren die schönsten Sprüche meiner jetzt schon 12jährigen Zeit als Kanzlerin versteckt.

Anton Hofreiter hat sich sofort auf die Kekse gestürzt. „Mit dem Kopf durch die Wand wird nicht gehen. Da siegt zum Schluss immer die Wand“, las er seinen Spruch laut vor. „Und jetzt werde ich euch gleich sagen, von wem dieser Spruch ist“, spielte er den Streber. „Nichts sagen.“ Hofreiter hat kurz überlegt. „Konfuzius, Jesus“, legte er dann los. „Nein, nichts verraten, jetzt weiß ich es, Dieter Bohlen.“ Altmaier schüttelte nur den Kopf. „Oder Einstein.“ Hofreiter schlug sich mit der Hand an den Kopf. „Natürlich, jetzt weiß ich es: Martin Luther.“ Er blickte uns triumphierend an.
„Luther ist schon fast richtig“, klärte ich ihn schließlich auf. „Aber dieser Spruch ist von mir. Peter hatte die wunderbare Idee, die schönsten Sprüche aus meiner 12jährigen Kanzlerschaft in diesen Keksen zu verstecken.“
Doch es stellte sich heraus, dass kaum jemand dem Tiefsinn meiner Gedanken folgen konnte. Christian Lindner blickte immer wieder ratlos auf seinen Zettel. „Alles, was noch nicht gewesen ist, ist Zukunft, wenn es nicht gerade jetzt ist“, las er laut vor. „Ich versteh es nicht.“ Er schüttelte dauernd den Kopf. „Ich komme einfach nicht drauf, was das bedeuten soll, ich komm nicht drauf.“

Am peinlichsten war, dass Horst Seehofer offensichtlich keine Ahnung hatte, was ein Glückskeks ist. Er aß den Keks mitsamt dem Papier darin. Das Papier blieb ihm natürlich im Hals stecken. Er röchelte, wurde knallrot. Endlich würgte er das Papier heraus. Darauf stand. „Wir haben so vieles geschafft. Wir schaffen das.“ Seehofer bekam einen so heftigen Hustenanfall, dass er nach draußen gehen musste.

Nach dem Fiasko mit den Glückskeksen versuchte es Claudia Roth am nächsten Morgen mit einer meditativen Übung vor Beginn der Gespräche. Dabei sollten wir uns in einen Pinguin einfühlen, dem durch die Klimaerwärmung der Boden unter den Füßen wegschmilzt und dem als letzte Möglichkeit bleibt, in Deutschland Asyl zu beantragen.
Das haben noch alle ohne Murren mitgemacht, aber als Claudia Roth am Ende der Übung alle aufforderte, sich an den Händen zu fassen und laut ‚Wir haben uns alle ganz toll lieb' zu sagen, da schrie Scheuer, das mache er nicht mit.
Und dann gab es einen großen Streit. Und am Ende hatte sich niemand mehr lieb.

Die Meinungen prallen hart aufeinander bei diesen Sondierungsgesprächen. Dass ich keine Meinung habe, hilft bisher nicht viel. Ich hoffe, kommende Woche läuft es besser.